„Die meisten ziehen hier nicht wieder aus“, sagt Frau P.
Sie arbeitet als examinierte Altenpflegerin und Wohnbereichsleitung auf der Station fünf in Fritz-Kistler-Haus in Pasing. Ich begleite sie im Rahmen einer freiwilligen Hospitation bei einem Frühdienst. Selber arbeite ich schon seit über zehn Jahren im Pflegeberuf. Meine Perspektive auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen ist aber stark geprägt von der Versorgung im Krankenhaus. Der Pflegeberuf ist extrem vielfältig und ich möchte die unterschiedlichen Facetten kennen lernen.
Im Bereich fünf leben 22 drei schwer pflegebedürftige Personen. Sie haben alle einen Pflegegrad zwischen 3 und 5. Das bedeutet Unterstützungsbedarf bei der Körperpflege, bei der Mobilisation, bei der Nahrungsaufnahme, bei der Ausscheidung, Beschäftigung, Förderung und beim Erhalt der geistigen Fähigkeiten.
Die Frühschicht beginnt um 6:15 Uhr mit der Übergabe vom Nachtdienst. Ich darf Frau P. heute bei der morgendlichen Runde begleiten. Die beiden Pflegekräfte des Frühdienstes haben in den Tagen vorher vorgearbeitet, bereits Medikamente für die kommenden Tage hergerichtet um auch Zeit zu haben, von ihrem Arbeitsalltag und Herausforderungen zu berichten.
Vor sieben beginnt die Runde über den Wohnbereich. Aufwecken, anziehen, zum Frühstück begleiten, mobilisieren und teils sofort mit der Körperpflege beginnen. Ich merke sofort, Frau P. kennt ihre Bewohner*innen sehr gut und teilweise auch schon sehr lang. Sie kann schnell die Stimmungslage einschätzen und weiß, wer wie viel Unterstützung braucht oder wer nur motiviert werden muss, um Handgriffe selbst zu übernehmen. Wir kommen schnell darüber ins Gespräch, wie es einem als Pflegekraft in der Langzeitpflege wohl geht, wenn eine langjährige Bewohnerin verstirbt. Wir sind uns schnell einig: einer Patientin oder einem Bewohner ein würdevolles Sterben zu ermöglichen, ist ein wichtiger und ein ehrenvoller Aspekt des Pflegeberufs. Frau P. hat die palliative Versorgung zu ihrem Herzensprojekt gemacht und sich weitergebildet. Sie unterstützt nun in der ganzen Einrichtung Bewohner*innen und deren Angehörige, wenn ihre Kolleg*innen sie zur Beratung heranziehen.
Eine der Patientinnen hat sehr trockene Haut. Hautbeobachtung ist eine pflegerische Kernkompetenz. Natürlich wissen wir auch sofort, dass eine lipidreiche Wasser-in-Öl-Emulsion eine sinnvolle Hautpflege wäre. Allerdings müssen wir auf das Produkt zurückgreifen, das die Angehörigen vorbeigebracht haben. In der Abwägung zwischen pflegefachlicher Einschätzung, Autonomie durch private Auswahl der Pflegeprodukte und der Tatsache, dass die Produkte von Patient*innen selbst bezahlt werden müssen, ist die Wirksamkeit der Pflegefachkompetenz an dieser Stelle deutlich eingeschränkt.
Sie erzählt mir auch, wie schwierig es ist, mit 10 Teammitgliedern den Dienstplan zu schreiben, insbesondere wenn Krankheitsfälle auftreten oder Urlaubszeit ist.
Am Ende des Vormittags gibt mir Frau P. Einblicke in die Dokumentation. Die Dokumentation ist aufwendig und zeitintensiv. Beispiel Mangelernährung: die Bewohnerin muss wöchentlich gewogen werden, Gründe für die Mangelernährung beschrieben werden. Obwohl Frau P. als Fachkraft weiß und begründen kann, ob die Mangelernährung und die Verweigerung der Nahrungsaufnahme ein Bestandteil des Sterbeprozesses sind, oder ob die Bewohnerin zusätzlich hochkalorische Nahrung bräuchte, darf letzteres nicht von ihr verordnet werden und ersteres reicht nicht, um den Prozess des Wiegens und Dokumentation der Nahrungsaufnahme zu reduzieren.
Aus dem Vormittag mit ihr nehme ich drei wichtige Botschaften mit:
- Mehr Wertschätzung und Anerkennung für die gesellschaftliche und fachliche Relevanz ihrer Arbeit in der Altenpflege.
- Pflege kann nicht jede*r. Sprachkenntnisse sind eine wichtige Voraussetzung, um mit oftmals an Demenz erkrankten (und vielleicht auch noch Dialekt sprechenden) Personen kommunizieren zu können.
- Pflegerische Vorbehaltsaufgaben umsetzen. Die Altenpflege kann Vorreiterin in dieser Frage werden: die Dokumentation orientiert sich ohnehin am Pflegeprozess. Die Konsequenz muss sein, dass Pflegekräfte Maßnahmen, die sich aus dem Pflegeprozess ableiten lassen, verordnen dürfen. Vom Pflegeprodukt bis zum Hilfsmittel.
Am späten Vormittag holt mich Herr O. ab. Er ist die Einrichtungsleitung, selbst gelernter Altenpfleger und hoch erfreut über meinen Besuch und das Interesse.
Als erstes legt er mir die Bewerbung eines Pflegers aus dem Kosovo vor. Er hat ihm empfohlen, über eine Bewerbung bei McDonald’s die Arbeitserlaubnis in Deutschland zu bekommen. Das geht schneller, als wenn er sich mit allen Unterlagen und Pflegeabschluss um die Genehmigung bemüht, das dauere trotz angeblicher Beschleunigung mehrere Monate. Die Anerkennung ausländischer Fachkräfte ist ein großes Thema. Es werden auch große Anstrengungen unternommen, um Menschen für die Ausbildung nach Deutschland zu holen. Das funktioniere aber nicht ohne Probleme: der Pflegeberuf ist dann oftmals nur mittel zum Zweck und keine bewusste Entscheidung. Das ist aber notwendig, um langfristig zufrieden und zufriedenstellend in dem Beruf zu arbeiten. Die Ausbildung ist anspruchsvoll, erfordert auch nach dem Abschluss die Bereitschaft, immer dazu zu lernen, auf dem aktuellen Wissensstand zu sein und komplexe Prozesse zu organisieren.
„Wenn wir die Bewohner fragen, was sie sich am meisten wünschen, sagen sie: Sicherheit. Sie meinen damit nicht den Schutz vor Diebstahl oder Einbrüchen, sondern dass sie die Pflegekräfte, die sie versorgen, kennen,“ sagt Herr O. Manchmal seien sie auf Zeitarbeitskräft angewiesen, um kurzfristige Ausfälle zu kompensieren. Ansonsten ist er aber sehr stolz darauf, dass die meisten Mitarbeiter*innen seit vielen Jahren dort arbeiten. Viele bis zur Rente, einige ehemalige Mitarbeitende sind eingezogen, als sie selbst pflegebedürftig wurden. Er macht sich Sorgen, was passiert, wenn die Babyboomer in Rente gehen, sie werden eine große Lücke hinterlassen.
Er zeigt mir das Haus und ist stolz auf den „Rüstigen Bereich“. Dort können Menschen in 1-2-Zimmer-Apartments einziehen, bevor sie einen Pflegegrad entwickeln. Zwar ist eine Pflegekraft Tag und Nacht ansprechbar, es gibt Mahlzeiten und die Zimmer werden wöchentlich gereinigt, aber die Autonomie bleibt erhalten. Das Einzelzimmerapartment kostet knapp 2.000€, rund 1200€ weniger als ein Zimmer auf der Pflegestation mit Pflegegrad 1. Wenn es irgendwann nicht mehr geht, ist Hilfe nahe. Auch eine Hausarztpraxis befindet sich im Erdgeschoss des Hauses. Das macht es einfach, Rezepte zu bekommen und kurzfristige Konsultationen.
Auf den Post in der Instagram-Story habe ich viele positive Nachrichten bekommen von Menschen, deren Großeltern im Fritz-Kistler-Haus die letzten Jahre verbracht haben. Das bestätige den guten Eindruck, den ich von der Einrichtung hatte.
Drei weitere Aspekte die ich mitnehme:
- Begrenzung der Pflegekosten auf 1.000€ für pflegebedürftige Personen, damit Pflegebedürftigkeit nicht zu Altersarmut führt.
- Anerkennungsprozesse beschleunigen und Arbeitserlaubnis für Pflegefachpersonen aus dem Ausland schneller erteilen.
- Auch die Altenpflege kann von Akademisierung profitieren. Pflege ist anspruchsvoll. Diese Erkenntnis muss in der Gesellschaft Fuß fassen.
Abschließend kann ich sagen, dass ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass die generalistische Pflegeausbildung der richtige Weg ist. In drei Jahren gemeinsamer Ausbildung wird die Berufsbezeichnung „Pflegefachfrau“ bzw. „Pflegefachmann“ erworben. Allerdings muss noch vieles passieren, bis die Berufsgruppe zusammenwächst. Auch daran möchte ich als Pflegefachperson und als Politikerin mitarbeiten.